Die Vagusnerv-Stimulation (VNS) ist eine neuromodulative Therapie, die zunehmend Aufmerksamkeit in der Medizin und Psychologie erhält. Ursprünglich zur Behandlung therapieresistenter Epilepsie entwickelt, zeigt sie mittlerweile auch vielversprechende Effekte bei Depressionen, Entzündungsprozessen, Angststörungen, Long-COVID, Fatigue und gastrointestinalen Beschwerden. Dieser Beitrag bietet einen fundierten Überblick über die physiologischen Grundlagen, therapeutischen Anwendungen und den aktuellen Stand der Forschung.

Was ist der Vagusnerv?

Der Vagusnerv ist der zehnte Hirnnerv (Nervus vagus) und spielt eine zentrale Rolle im parasympathischen Nervensystem. Er verläuft vom Hirnstamm über Hals und Brust bis in den Bauchraum und innerviert zahlreiche Organe, darunter Herz, Lunge und Verdauungstrakt. Seine Funktionen reichen von der Regulation der Herzfrequenz bis zur Modulation von Entzündungen und der Darmmotilität.

Wie funktioniert Vagusnerv-Stimulation?

Die VNS erfolgt entweder invasiv über einen implantierten Stimulator oder moderner nicht-invasiv, etwa durch transkutane Vagusnerv-Stimulation (tVNS) über die Haut am Ohr. Die Stimulation beeinflusst bestimmte Hirnregionen (z. B. Nucleus tractus solitarius, Locus coeruleus), die autonom-nervöse, emotionale und immunologische Prozesse steuern.

Therapeutische Anwendungen

1. Epilepsie

Die VNS ist von der FDA zur Behandlung therapieresistenter Epilepsie zugelassen.

Ben-Menachem E. et al. (1994). Epilepsia, 35(3), 616–626.

2. Depression

VNS zeigt nachweisbare antidepressive Effekte bei therapieresistenter Depression.

Rush A. J. et al. (2005). Biol Psychiatry, 58(5), 347–354.

3. Entzündung und Immunmodulation

Über die cholinerge antiinflammatorische Bahn hemmt VNS proinflammatorische Zytokine.

Tracey, K. J. (2002). Nature, 420, 853–859.

4. Angststörungen und PTSD

VNS kann das emotionale Lernen und die Angstverarbeitung verbessern.

Peña, D. F. et al. (2013). Neurobiol Learn Mem, 105, 9–16.

5. Long-COVID und chronische Fatigue

tVNS wird bei Long-COVID-Symptomen wie Brain Fog und Fatigue erprobt.

Gerdle B. et al. (2022). J Transl Med, 20, 90.

6. Gastrointestinale Beschwerden

Der Vagusnerv ist maßgeblich an der Regulation von Magen- und Darmfunktionen beteiligt. VNS kann bei Reizdarmsyndrom (IBS), Gastroparese und funktionellen gastrointestinalen Störungen unterstützend wirken. Die Modulation der Darm-Hirn-Achse durch VNS beeinflusst Motilität, Sekretion und Schmerzempfinden.

„Vagal nerve stimulation modulates gut-brain signaling and improves functional GI symptoms“
→ Bonaz, B., Picq, C., Sinniger, V., Mayol, J. F., & Clarençon, D. (2013). Autonomic Neuroscience, 179(1–2), 51–59.
https://doi.org/10.1016/j.autneu.2013.06.006

Auch eine Rolle in der Behandlung von entzündlichen Darmerkrankungen wie Morbus Crohn wird diskutiert (Bonaz et al., 2016).

Bonaz B. et al. (2016). Frontiers in Neuroscience, 10, 49.
https://doi.org/10.3389/fnins.2016.00049

7. Leistungssteigerung und kognitive Funktionen

Neuere Studien deuten darauf hin, dass VNS auch kognitive Leistungsparameter verbessern kann – etwa Aufmerksamkeit, Lernfähigkeit, Gedächtniskonsolidierung und Entscheidungsprozesse. Diese Effekte beruhen vermutlich auf der Aktivierung des locus coeruleus, der noradrenalinhaltigen Bahnen im Gehirn und der Interaktion mit frontalen Kortexstrukturen.

Ergebnisse aus der Forschung:

  • Clark et al. (1999) fanden, dass VNS bei Ratten das Lernen im klassischen Konditionieren beschleunigte.
  • Jacobs et al. (2015) zeigten, dass transkutane VNS bei Menschen die Reaktionszeit in Aufmerksamkeitstests signifikant verbesserte.
  • Steenbergen et al. (2015) dokumentierten eine verbesserte kognitive Flexibilität unter tVNS – ein wichtiger Bestandteil des exekutiven Denkens.
  • Fischer et al. (2018) beobachteten eine erhöhte Arbeitsspeicherkapazität durch aurikuläre VNS bei gesunden Proband:innen.

„Cognitive enhancement via transcutaneous vagus nerve stimulation“
→ Steenbergen L. et al. (2015). Journal of Cognitive Enhancement, 1(3), 253–263.
https://doi.org/10.1007/s41465-017-0010-1

„Transcutaneous vagus nerve stimulation improves cognitive performance“
→ Fischer R. et al. (2018). Neuropsychologia, 117, 191–197.
https://doi.org/10.1016/j.neuropsychologia.2018.05.009

„tVNS enhances cognitive control and performance monitoring“
→ Sellaro R. et al. (2016). Cortex, 79, 87–95.
https://doi.org/10.1016/j.cortex.2016.03.016

Diese Effekte machen VNS auch für Anwendungen im Bereich neuroenhancement, z. B. bei Studierenden, Pilot:innen oder Patient:innen mit kognitiven Einschränkungen, interessant. Auch in der Rehabilitation nach Schlaganfall oder Schädel-Hirn-Trauma werden kognitive Wirkungen gezielt eingesetzt.

8. Verbesserung der Herzratenvariabilität (HRV)

Nicht-invasive VNS kann die HRV verbessern und somit autonomes Gleichgewicht, Stressverarbeitung und psychophysiologische Resilienz stärken.

HRV – ein zentrales Ziel der Vagusnerv-Stimulation

Was ist HRV?

Die Herzratenvariabilität (HRV) beschreibt die natürliche Schwankung der Zeitintervalle zwischen zwei Herzschlägen. Eine hohe HRV steht für ein anpassungsfähiges, resilient agierendes Nervensystem mit gutem vagalen Tonus. Eine niedrige HRV gilt als Risikofaktor für kardiovaskuläre Erkrankungen, Depression, Burnout und chronische Stressbelastung.

Der Vagusnerv hat direkten Einfluss auf den Sinusknoten des Herzens. Eine verbesserte vagale Aktivität durch VNS spiegelt sich unmittelbar in einer verbesserten HRV wider.

Aktuelle Evidenz zur HRV-Steigerung durch VNS

  • Clancy et al. (2014): Transkutane VNS (tVNS) am Ohr erhöhte die HRV bei gesunden Proband:innen signifikant, was auf eine Aktivierung parasympathischer Regulationsmechanismen hinweist. Clancy JA et al. (2014). Brain Stimulation, 7(6), 871–877.
    https://doi.org/10.1016/j.brs.2014.07.034
  • Bretherton et al. (2019): In einer randomisierten Studie zeigte tägliche tVNS über 2 Wochen eine deutliche Verbesserung der HRV, verbunden mit erhöhter Ruhe und reduzierter Stresswahrnehmung. Bretherton B et al. (2019). Autonomic Neuroscience, 217, 102–105.
  • Lamb et al. (2017): Aurikuläre VNS steigerte den High-Frequency-HRV-Index, der als besonders verlässlicher Marker für vagale Aktivität gilt. Lamb DG et al. (2017). Front Physiol, 8, 770.
    https://doi.org/10.3389/fphys.2017.00770

Diese Effekte machen VNS besonders interessant für:

  • Stresstherapie und Burnout-Prävention
  • Leistungscoaching
  • Sportmedizin und Regeneration
  • Psychosomatik und Herz-Kreislauf-Prävention

Nebenwirkungen und Risiken

Die VNS gilt als relativ sicher. Bei der invasiven Methode sind Nebenwirkungen wie Heiserkeit, Husten oder Halsbeschwerden häufig. Die nicht-invasive Anwendung ist gut verträglich, wobei gelegentlich Hautirritationen auftreten können.

Fazit: Ein nervenstarker multisystemischer Therapieansatz

Die Vagusnerv-Stimulation bietet vielfältige therapeutische Potenziale – sowohl bei neurologischen als auch immunologischen und funktionellen Erkrankungen. Besonders die nicht-invasive Variante der tVNS eröffnet neue, niedrigschwellige Behandlungsmöglichkeiten, auch bei chronischen gastrointestinalen Beschwerden. Die Vagusnerv-Stimulation beeinflusst nicht nur neuronale und immunologische Prozesse, sondern stärkt auch die autonome Regulationsfähigkeit des Körpers, wie durch Verbesserungen der HRV messbar ist. Dies unterstreicht das ganzheitliche Potenzial dieser Methode – sowohl in der klinischen Therapie als auch im Bereich Mental Health, Prävention und Leistungsoptimierung.

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